Lienz – Mikaela Shiffrin blickt auf ein extrem erfolgreiches Jahr voller Emotionen und Veränderungen zurück. Als sie nach ihrer persönlichen Bilanz 2019 gefragt wird, muss die beste Skirennfahrerin der Welt dennoch lange überlegen.
«Hm, ich weiß nicht – spektakulär», sagt sie dann in der zum Medienzentrum umfunktionierten Spitalskirche in Lienz. «Ich habe viel gelernt und es war sehr emotional. Es gab viele Veränderungen.» Erwachsener sei sie geworden. «Ich fühle mich, als wäre ich vor einem Jahr noch 17 gewesen und nun 24.»
Kurz zuvor hatte Shiffrin ihren 64. Weltcup-Sieg eingefahren, im Slalom. Wichtiger aber war der Erfolg tags zuvor. «Der Sieg am Samstag war wie eine Befreiung für mich», sagt sie. Nach den beiden nahezu perfekten Läufen im Riesenslalom am Schlossberg hatte sie schon tiefe Einblicke gewährt. «Ich habe nicht erwartet, hier zu gewinnen. Ich wollte es nur besser machen als letztes Mal.»
Sorgen hatten ihr nicht ihr einzigartiges Talent oder ihre Form bereitet, sondern ihre Einstellung zum Beruf und vor allem ihre emotionale Reaktion nach dem Riesenslalom von Courchevel elf Tage zuvor. Da war sie 17. geworden und hatte Tränen der Enttäuschung über ihr eigenes Versagen vergossen. Niemand hatte einen solchen Einbruch der Dominatorin erwartet oder erklären können.
«Diese Niederlage hat sie menschlicher gemacht», sagt DSV-Alpinchef Wolfgang Maier. «Aber bei ihr von einer Delle oder einer Krise zu reden, ist ein Schmarrn!» An Shiffrins Extraklasse besteht für ihn keinerlei Zweifel: «Sie ist in allen Bereichen besser als die anderen: was die Fitness, das skifahrerische Können und auch die psychische Stabilität betrifft.»
Für Shiffrin, die nun zwei Weltcup-Siege mehr hat als die Österreicherin Annemarie Moser-Pröll (62) und bei den Damen nur noch ihre zurückgetretene US-Kollegin Lindsey Vonn (82) vor sich hat, wirkte der Doppelsieg in den österreichischen Dolomiten wie ein Schlüsselerlebnis ihrer Karriere. Da sie ihr eigenes Ich besiegte. Nach dem verpatzen Rennen hatte sie sich zurückgezogen, analysiert, trainiert, Gespräche geführt. Sie kam zu dem Schluss, dass sie ihre Lockerheit nur wiederfindet, wenn sie ihre Ansprüche zurückschraubt. «Die letzte Woche war wirklich hart für mich. Die Überlegung in meinem Kopf war: Kann ich dem Druck standhalten? Kann ich das?»
Fast gerät Shiffrin ins Philosophieren, als sie das Thema der letzten Wochen erklärt: «Diese Saison war bisher sehr schwierig. Immer wenn ich zu einem Rennen gefahren bin, habe ich gedacht: ‚Soviel Punkte hast du letztes Jahr geholt, so hast du abgeschnitten‘.» Sie wollte alles wieder genauso machen wie in der zurückliegenden Rekordsaison, in der sie 17 Mal siegte und überlegen die große Kristallkugel gewann. «Aber es kann sein, dass ich so eine Saison nie wieder fahre», meint Shiffrin. Daher hatte sie sich vor diesem Winter fest vorgenommen: «Lege diese Erwartungen beiseite!»
Aber dann kam «der Schmerz von Courchevel». Weniger das Ergebnis, mehr ihre Leistung erschütterten sie. «Ich habe meinen Job nicht gemacht. Ich musste einiges ändern: meine Einstellung und meine eigenen Erwartungen», betont Shiffrin. «Jeder weiß, dass der Riesenslalom meine schwierigste Disziplin ist. Aber die besten Riesenslalom-Fahrer der Welt sind die besten Skifahrer. Und ich will eine gute Riesenslalom-Fahrerin sein», erklärt die Olympiasiegerin. «Deswegen waren die Rennen hier sehr speziell für mich.»
Schon mit 24 Jahren hat Shiffrin fast alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt. Vermutlich wird sie bald auch an Marcel Hirscher (67 Siege) und Ingemar Stenmark (86) vorbeiziehen. Weil sie erkannt hat, dass es kontraproduktiv ist, auf die hohen Erwartungen von außen noch ihre eigenen perfektionistischen Ansprüche zu packen und damit den Erfolgsdruck unermesslich zu erhöhen. «Mein Problem ist, nicht zu denken, versagt zu haben, wenn ich nicht so viele Rennen gewinne, wie letztes Jahr. Dieser Druck ist zu hoch, die Erwartung ist nicht zu erfüllen. Das ist meine mentale Herausforderung.»
Die Ausnahme-Athletin beschäftigt sich auch mit anderen Dingen wie der Friday-for-Future-Bewegung, dem Klimawandel. Sie lernt, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. «Eine schlechte Platzierung ist nicht das Ende der Welt. Wir leben nicht im Krieg, wir leiden keinen Hunger, wir haben einen Platz zum Schlafen und frisches Wasser. Aber am Ende des Tages ist Skifahren das, was wir tun. Es ist mein Leben.»
Fotocredits: Expa/Michael Gruber
(dpa)