Viele Sagen und Märchen über die Alpenregionen gibt es. Die folgende berichtet von einem Spuk in Tirol.
Das Schloß, um das es geht, befindet sich in Hötting am Inn im schönen Tirol. In der Region wurde speziell ab dem 15. Jahrhundert viel Bergbau betrieben und so mancher realer Schatz geborgen.
„Weit unter der Kirche zu Hötting ragt das Schloß Lichtenturm empor, welches im sechzehnten Jahrhundert an die Freiherrn von Schneeburg kam, und daher auch jetzt häufig Schneeburg genannt wird. Dort hat man zum öftern die Gestalt eines großen Ritters erblickt, vornehmlich um die Mitternachtsstunde, dessen Helm dem aufgesperrtenn Rachen eines fürchterlichen Thieres glich; in der Hand trug er ein langes Schwert und wandelte aus einem Gewölbe der Burg bis zu einer Grube, die sich im Hofe befand. Bisweilen lehnte er auch am Fenster dieses Gewölbes und zeigte mit dem Schwerte hinein. Von seinen starken Fußtritten erbebte das ganze Schloß. Man vermuthete allgemein, daß jener Ritter eine Art Schatzhüter sein müsse, und einige beherzte Männer verabredeten sich mit dem Schloßaufseher, nach dem Schatze zu graben, wenn einmal die Herrschaft nicht auf Schneeburg sei. Dies geschah zur Zeit der Weinlese; da reitete die Herrschaft nach Meran und auf das Schloß Rubein. Sie gingen daher mit dem Aufseher – zusammen ihrer vier – versehen mit allem zur Schatzgräberei Nöthigen, an ihr nächtliches Werk.
Nachdem sie mit vereinten Kräften und stillschweigend, nach der Hauptregel der Schatzgräber, gegraben hatten, schlug die Wünschelruthe, und bald war eine Kiste sichtbar, deren Handhaben schon klapperten und klirrten.
Da schaute plötzlich die Gestalt einer wohlbekannten, ganz in der Nachbarschaft wohnenden alten und frommen Jungfrau durch das Fenster des Gewölbes, in welchem jene beschäftigt waren, und in das der Geist des Ritters so oft mit seinem Schwerte gedeutet hatte, und fragte: habt’s ’n schon ? – Auf diese Frage vergaß der eine der Arbeiter das Gebot des Schweigens, und rief antwortend: Ja, iazt hab’n wir ihn ! – Kling ! Klirr ! fährt die Kiste wieder in die Tiefe, und jene standen und starrten einander an. Sie wollten die alte Jungfrau schelten, aber diese war verschwunden.
Am andern Morgen verfügten sich Alle oder doch Einige der Schatzgräber zu der alten Jungfrau und machten ihr Vorwürfe über ihre so ganz unnöthige und nachtheilige Störung in der vorigen Nacht. Diese aber verstand lange gar nicht, was die Männer wollten. Sie sagte ihnen, daß sie um solche Zeit nicht im Schlosse herumzuwandeln pflege, sondern in ihrem Kämmerlein im Schutze Gottes und seiner lieben Heiligen ruhe, und zeigte ihnen mit höflichem Ernst die Thüre. Da merkten die Schatzgräber, daß jene Erscheinung nur eine Truggestalt gewesen, sie um den Schatz zu bringen, die der Ritter vielleicht selbst habe annehmen müssen, und wagten sich niemals wieder an das nächtliche Werk.
Der Ritter aber soll noch immer spuken, Thüren auf und zuwerfen, und mit seinen Fußtritten, wenn er über den Hof schreitet, das Schloß erschüttern.“
Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 120, Seite 119