München – Für eine Kristallkugel wäre im Flur von Selina Jörgs Wohnung definitiv noch Platz. Die beste deutsche Snowboarderin hat ihre wichtigsten Trophäen in einer Regalwand stehen, die ihr Freund 2018 anlässlich der Silbermedaille bei Olympia aus Altholz getischlert hat.
Im vorigen Winter musste er anbauen, da kam WM-Gold dazu. «Er sagt aber, er könnte schon noch erweitern», erzählt Jörg und lacht. Die Allgäuerin startet am Wochenende in Russland in die neue Saison, in der kein Großereignis ansteht. Deshalb steht der Weltcup im Fokus – und da will Jörg im Herbst ihrer langen Karriere endlich die begehrte Kugel für den Gesamtsieg in den Händen halten.
Die 31-Jährige ist seit 2005 im Weltcup unterwegs, lange schien sie vom Pech verfolgt und die vierten Plätze abonniert zu haben. Bei den Sommerspielen in Pyeongchang und bei der Weltmeisterschaft 2019 in Park City erlöste sie sich dann aber selbst. «Man könnte es entspannt angehen», meint die erfahrene Sportlerin vom SC Sonthofen.
Aber eine Rechnung hat Jörg ja noch offen. Im März verpasste sie beim Saisonfinale in Winterberg um eine Hundertstelsekunde den Sieg. Dadurch fehlten ihr jene Punkte in der Weltcup-Wertung, die den Gewinn der kleinen Kristallkugel im Parallel-Slalom bedeutet hätten. Im Jahr zuvor war es ihr ähnlich ergangen. «Das treibt mich jetzt echt an», berichtet die Sportsoldatin. «Vielleicht war es gar nicht schlecht, nicht gewonnen zu haben.» Sonst hätte Jörg nicht gewusst, was ihr Ziel der Saison ist und vielleicht sogar ein Karriereende erwogen. «Aber jetzt weiß ich es definitiv: Die Kugel soll es sein!»
Ob sie Olympia in Peking 2022 noch einmal anvisiert, weiß sie noch nicht. Motiviert wird sie im täglichen Training von ihrer Medaillenwand. «Bevor ich ins Training gehe, werfe ich kurz einen Blick hin und weiß, dafür gebe ich Vollgas. Das ist der Ansporn.»
Die Weltmeisterin im Parallel-Riesenslalom führt ein starkes Team an, das am Samstag (9.00 Uhr/MEZ) im russischen Bannoye nahe Magnitogorsk im Süd-Ural in den ersten Wettkampf startet. Auch die Olympia- und WM-Dritte Ramona Hofmeister (23) ist eine Fahrerin mit Siegchancen. Durch die neue Geldverteilung im deutschen Sport wird das alpine Race-Team von Snowboard Germany zudem noch intensiver unterstützt – etwa durch mehr Serviceleute und bessere Trainingspisten. «Die Besten sollen das Beste bekommen», sagt Sportdirektor Andreas Scheid dazu.
Reich werden Snowboarder freilich nicht, auch Weltmeisterinnen nicht. «Man muss viel Herzblut reinstecken», stellt Jörg klar. Deren Sponsorensituation habe sich nach ihrer zweiten wichtigen Medaille zwar klar verbessert, «aber Fußballer würden sich für das Geld kein Schuhbändel zubinden», sagt die Allgäuerin. «Und klar schauen wir etwas neidisch auf andere Sportarten, wo man mit dem Audi durch die Gegend fährt, während wir immer noch privat unsere Autos leasen.»
Sportliche Erfolge lassen die finanziellen Unterschiede aber doch immer wieder in den Hintergrund rücken. Eine glitzernde Kugel wäre für Selina Jörg ein weiterer Lohn ihrer Leidenschaft. Und ihr Freund würde dann gerne Säge, Hammer und Nägel in die Hand nehmen.
Fotocredits: Michael Kappeler
(dpa)